Textilindustrie einmal anders

aus: FAZ, 28.12.2015

Mit technischen Textilien den Umbruch meistern

Gepäcknetz und Bungee-Seil: Wie sich Wuppertaler Textilhersteller aus der Abhängigkeit von der Bekleidungsindustrie befreit haben.

csc. WUPPERTAL, 27. Dezember. Nur aus Männern bestand das Publikum heim Spiel der Wuppertaler Fußballvereine Barmen gegen Elberfeld im Jahr 1928 – und alle trugen einen Hut. Mit der vergilbten Schwarzweißaufnahme will Peter vom Baur auf das Produkt hinweisen, mit dem das 1805 gegründete Wuppertaler Familien unternehmen J. H. vom Baur Sohn GmbH & Co. KG groß geworden ist: „Wir haben lange vom Herrenhutband gelebt”, sagt der Diplom-Kaufmann, 54 Jahre alt und Vertreter der siebten Generation. Als der Hut in den fünfziger fahren seine Funktion als Wetterschutz einbüßte, richtete sein Vater die Weberei neu aus. Inzwischen trägt das Hutband nur noch 1,5 Prozent zum Umsatz von rund 10 Millionen Euro bei. Lediglich aus Nordamerika (für Filz- und Cowboyhüte) und Ecuador (für Strohhüte) kommen noch Bestellungen.

Auf den 120 laut ratternden Webstühlen im Wuppertaler Stadtteil Ronsdorf entstehen heute technische Textilien, also textile Erzeugnisse abseits der Bekleidungsbranche. Etwa die dünnen Schläuche für die Filtration von Flüssigkeiten in der Lebensmittelindustrie. Oder die aus Glasfasern gefertigten Filter für Atemschutzmasken. Aus Kohlenstofffasern werden Gewebe hergestellt, die anschließend in Harz getränkt und dann als leichter, stabiler Verbundwerkstoff beim Bau von Ruderbooten, Segelflugzeugen oder Prothesen verarbeitet werden. Neben der modernen Nadelstuhltechnik setzt der 180-Mitarbeiter-Betrieb auch noch die sogenannten Schiffchen-Webstühle ein, bei deren Anblick sich Besucher um etliche Jahrzehnte zurückversetzt fühlen.

Flink sausen die flachen Holzschiffchen mit der Fadenspule von einer Seite zur anderen durch das Webfach. Die Maschinen stammen zwar aus der Nachkriegszeit, bieten aber nach Ansicht von Peter vom Baur bis heute die beste Technik zur Herstellung von nahtlos rundgewebten Schläuchen. Eine eigene Schreinerei mit einem gelernten Handwebstuhlschreiner besorgt die Instandsetzung der betagten Webstühle. Der Firmenchef zeigt die traditionelle Handwerkstechnik mit Selbstbewusstsein: „Die Verschleißteile fertigen wir selbst an, die gusseisernen halten eine Ewigkeit“. Viele der Gewebe sind Maßanfertigungen für einzelne Abnehmer aus dem Maschinenbau, der Chemie, der Zuckerindustrie oder der Medizintechnik. „Wir haben eine niedrige Hemmschwelle, lassen uns auf vieles ein.” Bei manchen Projekten wird auch mit Forschungsinstituten kooperiert. Mitunter aber kommen so viele Entwicklungswünsche der Kunden herein, dass vom Baur auch mal bremsen muss. Das Beispiel Wuppertal zeigt, welchen enormen Strukturwandel die Textilbranche hinter sich hat. Die 350 000-Einwohner-Stadt im Bergischen Land war einst neben Krefeld und Mönchengladbach eine der Hochburgen der rheinischen Textilindustrie und besonders bekannt für die Schmalbandweber.

Noch in den 1970er Jahren wurden in Wuppertal 50 000 Menschen in dem Gewerbe beschäftigt. Dann mussten viele Textilhersteller aufgeben, die Produktion wanderte in Billiglohnländer ab. Heute arbeiten in den verbliebenen Unternehmen noch 3000 Beschäftigte. Dieser Niedergang verstellt nach Ansicht von Andreas Kielholz, Geschäftsführer und Mitinhaber Jumbo-Textil, den Blick dafür, dass die Textilindustrie inzwischen wieder eine wirtschaftlich stabile Situation erreicht hat. „Wir verzeichnen heute keinen Schwund an Betrieben mehr, sondern haben wachsende Unternehmen.” Tatsächlich konnten die knapp 200 nordrhein-westfälischen Textilhersteller ihren Umsatz zwischen 2010 und 2014 von 3,3 Milliarden Euro auf knapp 3,5 Milliarden Euro ausbauen, wie die Brancheninitiative Zitex Textil & Mode NRW berichtet. Dabei stehen die für technische Anwendungen produzierten Textilien mittlerweile für fast die Hälfte des Umsatzes.

Als Zulieferer für die Automobilindustrie verzeichnet die ebenfalls in Wuppertal ansässige Jumbo-Textil – 1909 gegründet und einst Hersteller von Wäsche- und Trägerbändern für Bekleidung – in diesem Jahr ein Umsatzplus von etwa neun Prozent auf gut 10 Millionen Euro. Für Fahrzeuge von Herstellern wie BMW, Ford, Mercedes-Benz und den VW-Konzern liefert Jumbo Ablage- und Gepäcknetze, Handyhalter, elastische Bänder zur Straffung von Sitzbezügen, Hebe- und Entriegelungsschlaufen, Hutablagekordeln. Genauestens werden dabei die technischen Anforderungen definiert, wie Kielholz berichtet. Wie stark soll sich das Band dehnen, um wie viele Millimeter darf es über die Jahre ausleiern? „Wir schauen aus dem jeweiligen Projekt heraus, welches Material am besten geeignet ist.” Auf den rund 400 Maschinen stellt Jumbo-Textil sowohl Geflechte als auch Gewebe und Gewirke her. Zwar ist die Automobilindustrie mit Abstand der größte Abnehmer, doch werden auch Seile für Bungee-Trampoline, Kordeln für Spielzeuge, Expander für Rehageräte, Gummis für Bandagen, Stiftschlaufen für Notizbücher und Notöffnungsseile für Schiebetüren produziert.

Im kommenden Herbst steht für Jumbo-Textil der Umzug ins benachbarte Sprockhövel an. Gut acht Millionen Euro hat der dort errichtete Neubau gekostet, mit dessen Hilfe Kielholz die Abläufe weiter optimieren will. Aus dem einfachen Massengeschäft hält sich der gelernte Bankkaufmann, der Jumbo-Textil im Jahr 2004 zusammen mit zwei nicht operativ tätigen Mitgesellschaftern von der Gründerfamilie erworben hat, nach eigenem Bekunden heraus. Seine Devise für die kommenden Jahre: „Wir wollen mit den Ansprüchen der Kunden wachsen.“